Emptiness

Über das Emptiness-Projekt

Was ist Emptiness?

Die 92-jährige Milda lebt neben einem ehemaligen Bahnhof in der Grenzregion zwischen Lettland und Russland. In Zeiten der Sowjetunion war der Ort ein lebendiger Verkehrsknotenpunkt. Seine Bewohner*innen erinnern sich an „Wagenladungen voller Wassermelonen“, die den Ort passierten und an „Pulks von Sommergästen“, die aus Leningrad anreisten. Doch die Dinge haben sich geändert. Der letzte Personenzug rauschte vor zwei Jahren davon. Es gibt keine Arbeit, keine Schule, keine Post und keinen Laden mehr. Der „Laden auf Rädern“, die mobile Verkaufsstelle, kommt jeden Freitag ins Dorf – nicht unbedingt, um Gewinn zu machen, sondern vor allem, weil die verbleibenden Bewohner*innen darauf angewiesen sind. Nur ein paar Häuser sind noch bewohnt, die restlichen befinden sich in unterschiedlichen Stadien des Verfalls.

Das ist Emptiness („Leere“), wie sie sich in den Grenzregionen zwischen Lettland und Russland zuträgt.[1]Emptiness, wörtlich übersetzt „Leere“, kann mit dem vor allem in Ostdeutschland weitverbreiteten Phänomen des „Dorfsterbens“ gleichgesetzt werden. Aus analytischen Gründen wird das … Continue reading Emptiness ist eine komplexe soziale Formation, die aus folgenden Dynamiken besteht: (1) einer beobachtbaren Realität, in der Orte rapide und scheinbar unwiderruflich ihre wesentlichen Bestandteile verlieren: Menschen, Schulen, Dienstleistungen, soziale Gemeinschaften, Arbeitsplätze, Zukunft; (2) einer Lebensweise (bestehend aus Praktiken und soziale Beziehungen), die als Reaktion auf diese Veränderungen entsteht, um das Leben trotzdem weitergehen zu lassen; und (3) ein emischer Deutungsrahmen, den lokale Bewohner*innen entwickeln, um die neue Realität zu beschreiben und einzuordnen.

Während Milda in ihrem sterbenden Dorf zunehmend vereinsamt, so ist das Dorf doch nicht allein in seinem Verfall. So häufen sich Berichte von sterbenden Dörfern und Städten in Moldawien, Bulgarien, Russland, Italien und Spanien. Entgegen den weitverbreiteten Narrativen der globalen Urbanisierung schrumpfen tatsächlich zahlreiche europäische Städte und Dörfer eher, als dass sie wachsen. Natürlich erfreuen sich Weltmetropolen wie London, Delhi oder Peking des Bevölkerungswachstums, aber all die Orte dazwischen – Dörfer wie Städte – verlieren zunehmend ihre Bewohner, ihre Arbeitsplätze, ihre Infrastruktur. Das bringt gravierende Veränderungen für die Art und Weise, wie die verbliebenen Menschen ihr Leben gestalten und wie Länder und Kommunen diese Orte regieren. Was bedeutet es beispielsweise für eine Kommune, für den Prozess des Schrumpfens statt des Wachstums zu planen? Wer fühlt sich für die leerstehenden und verfallenden Häuser zuständig? Was bedeutet es für die politische Autorität des Staates, wenn sich zunehmend ganze Landstriche entleeren und mehr und mehr Bürger*innen wegziehen, um in anderen Staatsgebieten zu leben? Wer bewohnt noch, oder zieht (zurück) in, diese Landstriche, welche Lebensweisen entstehen an den Peripherien von Kapitalismus und Staatsführung?

Lassen Sie sich in diesem Video von Dace Dzenovska das Projekt erklären:

Warum untersuchen wir Emptiness?

Dieses Forschungsprojekt untersucht Emptiness („Leere“) als konkrete soziale Formation und eine der grundlegenden – jedoch bisher wissenschaftlich eher vernachlässigten – Entwicklungen in der gegenwärtigen Landschaft von Kapitalismus, Staatsführung und den damit verbundenen Weltanschauungen. Man hört, dass mehr und mehr Menschen in Städten leben, und demzufolge gibt es eine Vielzahl an Studien über Weltmetropolen als Zentralen der Weltwirtschaftskreisläufe. Weniger wird über die Städte gesprochen, die schrumpfen, anstatt zu wachsen; höchstens tauchen Studien zu schrumpfenden Städten als Problemfelder der Stadt- und Raumplanung oder als Chancen für neue Formen der Stadtgestaltung auf. Aber man hört kaum etwas über die entleerten Landstriche zwischen den Städten, und das in einer Zeit, in der sich die Anzeichen von Emptiness weltweit verdichten. Keinerlei Studien gibt es bisher, die das Phänomen der „Entleerung“ gleichermaßen als Lebensrealität, Deutungsrahmen sowie als Blickwinkel auf die Funktionsweise von Wirtschaft und Politik unserer Zeit untersuchen.

Kolleg*innen in den Sozial- und Geisteswissenschaften haben sich mit ähnlichen Phänomenen auseinandergesetzt: Bevölkerungsschwund, Deindustrialisierung, Emigration. Dabei handelt es sich um wichtige Beiträge, die unser Projekt aufgreift. Gleichzeitig findet diese Form der Analyse in der Tendenz auf der mittleren Ebene statt, d.h. auf der Ebene der Gesellschaft, der Wirtschaft, der Nation, die allesamt Bereiche der Staatswissenschaften sind. Wir können aber das Phänomen Emptiness nicht vollständig verstehen, wenn wir uns nur auf dieser Ebene bewegen. Emptiness ist sowohl konkreter als auch größer – es schließt die Details des täglichen Lebens an bestimmten Orten genauso ein wie die großen makro-historischen Prozesse, die zu deren „Entleerung“ führen.

Emptiness in der heutigen Zeit ist nicht nur ein sich in zunehmendem Maße ausbreitendes, sondern auch ein neuartiges Phänomen. Bevölkerungsrückgang und Wegzug haben sich auch früher schon an bestimmten Orten abgespielt. Bei den meisten dieser Vorgänge handelte es sich jedoch um Folgeerscheinungen der räumlichen Krisenregulierungsstrategien des produktionsbasierten Kapitalismus („spatial fixes“); sie blieben Teil eines unangefochtenen Fortschrittsglaubens. Nun aber spielt sich Emptiness in der Zeit des Finanzkapitalismus ab, also in einer Zeit, die keine bessere gemeinsame Zukunft mehr verspricht. Wo Menschen und Orte in der Hochphase der Moderne in die Netzwerke der Marktwirtschaft und des Wohlfahrtsstaates eingegliedert wurden, finden sie sich nun von Kapitalkreisläufen und Staatsfürsorge ausgeschlossen wieder. Manchen Menschen gelingt es, umzusiedeln, andere sitzen an einen Ort gebunden fest. Das macht die gelebte Erfahrung von Emptiness zum frappierend neuen Phänomen, und zwar auf verschiedenen Ebenen.

Wie untersuchen wir Emptiness?

Unser Projekt benutzt Emptiness („Leere“) – eine konkrete historische Formation (mehr dazu unter Was ist Emptiness?) – als Werkzeug für die Methode des relationalen Vergleichs, der zur Verallgemeinerung führt. Das bedeutet nicht, dass wir Emptiness als abstraktes Konzept verstehen, sondern dass wir Emptiness mit all seiner empirischen Vielfalt horizontal verschieben, von den lettisch-russischen Grenzregionen in die Ukraine, nach Russland, Ostdeutschland, Armenien und Rumänien. Diese Gegenden sind historisch und geopolitisch sehr unterschiedlich, sie alle erleben jedoch den Kapitalismus nach dem Sozialismus, und in allen Gebieten gibt es Menschen, die mit leerstehenden Häusern, ausgedünnten Sozialbeziehungen und ungewissen Zukunftsaussichten leben. Die Arten und Weisen, wie die Menschen darauf reagieren – in Bezug auf Alltagspraktiken, politische Führung und Deutungsperspektiven – unterscheiden sich: in Lettland beschreibt die städtische Elite „Leere“ als Frage der Perspektive; in Russland diskutieren Experten darüber, ob das Problem durch Strategien wie Rückbau oder Umsiedlung der Peripherien angegangen werden kann. Feldforschung kann über die Vielfalt emischer Deutungsperspektiven Aufschluss geben, und wir begrüßen diese Vielfalt. Das Projekt ist so konzipiert, dass wir unseren analytischen Rahmen durch den relationalen Vergleich verfeinern und weiterentwickeln, um Erkenntnisse über die sich verändernde politische Landschaft in unseren konkreten Orten sowie darüber hinaus zu gewinnen.

Forschungsstandorte

Die Größenordnung und Neuartigkeit von Emptiness („Leere“) sind in postsozialistischen Kontexten besonders ausgeprägt, wo gleich zwei existenzorganisierende Systeme – Sozialismus und Kapitalismus – in schneller Abfolge den Rückzug angetreten haben.  An diesen Orten scheint die Zukunft in doppelter Hinsicht verloren: es gibt keine Weltanschauungen mehr, die eine Umkehr der „Entleerung“ versprechen, und viele Menschen haben folglich das Gefühl, die Kontrolle über ihr Leben verloren zu haben. Unser Projekt nimmt sich dieser Erkenntnisse an und nutzt sie, um Theorien zur globalen Gegenwart und ihren Zukunftsaussichten zu entwickeln. So möchten wir postsozialistische Orte und Subjekte von „Fallstudien“, denen entweder eine erfolgreiche oder gescheiterte Wendeerfahrung nachgesagt wird, zu Orten umdeuten, die eigene analytische Erkenntnisse generieren.

Volkstümliche wie wissenschaftliche Interpretationen von Emptiness in der ehemaligen sozialistischen Welt neigen tendenziell dazu, das Phänomen mit dem Ende des politischen Systems in Verbindung zu bringen, es also dem Zerfall der Sowjetunion und dem Ende der osteuropäischen Sozialismen zuzuordnen. Emptiness nach dem Sozialismus wird folglich als unumgängliche Folgeerscheinung der von der sozialistischen Moderne fehlkonzipierten Formen der politischen und wirtschaftlichen Organisation gesehen. Von diesem Standpunkt betrachtet handelt es sich bei der „Leere“, die sich als Nebenwirkung von „Korrekturen“ wie der (Neo)Liberalisierung von Wirtschaft und Gesellschaft herausstellt, um eine notwendige Phase im Übergang zu Demokratie und Marktwirtschaft. Unser Forschungsprojekt widerspricht dieser Interpretation. Emptiness wird zwar von denjenigen, die damit leben, in der Tat als Übergang empfunden, jedoch nicht mehr als Übergang, an dessen Ende kapitalistischer Wohlstand und Freiheit als Zielpunkte stehen. Stattdessen erwarten sie eine grundlegend andere Zukunft, an der diejenigen, die die Gegenwart erleben, nicht zwangsläufig teilhaben werden. In diesem Verlust der Gewissheit, Zuversicht und Hoffnung auf Wohlstand und Freiheit liegt das große analytische Potential von Emptiness im postsozialistischen Kontext.

Unsere Forschung wird an fünf Orten stattfinden, an die das aus den lettisch-russischen Grenzregionen abgeleitete analytische Konzept Emptiness transportiert und mithilfe von ethnographischen Methoden gelebte Erfahrungen, politische Regierungsformen sowie der analytische Erkenntnisgewinn von postsozialistischer „Leere“ im Detail analysiert werden. Diese Orte sind: die lettisch-russischen Grenzregionen (Dace Dzenovska), der Ferne Osten Russlands (Dominic Martin), Armenien (Maria Gunko), Ostdeutschland (Friederike Pank), sowie die Ukraine (teilweise in Rumänien) (Volodymyr Artiukh). Diese Standorte wurden auf folgenden Punkten basierend ausgewählt: (1) Präsenz einer Reihe an zusammenhängenden Faktoren, die zur „Entleerung“ nach dem Sozialismus beigetragen haben, vor allem geopolitische Veränderungen, neoliberale Globalisierung und die Nationalisierung von Politik; und (2) Identifizierung eines Spektrums von Entwicklungen, die aus der Kombination dieser Faktoren resultieren. Lettland beispielsweise hat seine geopolitische Ausrichtung entschieden verlagert, indem es der Europäischen Union und der NATO beigetreten ist und sich im Rahmen dieser Veränderung von der westlichsten Region der Sowjetunion in die östlichste Grenzregion der Europäischen Union verwandelt hat. Der Ferne Osten Russlands hat den drastischsten Rückzug des sozialistischen Staates erlebt, der die Region vor dem Projekt der sowjetischen Modernisierung als „leer“ angesehen hatte. Belarus ist, wenn auch in einer mehr und mehr uneindeutigen Form, im Einflussbereich Russlands und des Sozialismus verblieben; die Ostukraine ist zum aktiven Schlachtfeld über die wirtschaftliche und politische Kontrolle über die Region und ihre geopolitische Ausrichtung geworden. Zusammengenommen erlauben diese Standorte sowohl die Analyse der Spezifitäten von postsozialistischer „Leere“ als auch die weltweite Funktionsweise von wirtschaftlichen und politischen Machtdynamiken (mehr dazu unter People und News & Events).

Footnotes

Footnotes
1 Emptiness, wörtlich übersetzt „Leere“, kann mit dem vor allem in Ostdeutschland weitverbreiteten Phänomen des „Dorfsterbens“ gleichgesetzt werden. Aus analytischen Gründen wird das Konzept Emptiness zunächst beibehalten. Gleichzeitig arbeitet unser Projekt aber bewusst daran, die jeweiligen lokalen Deutungsrahmen und sprachlichen Bilder, die sich durchaus von Standort zu Standort unterscheiden, näher zu untersuchen und in die Theoriebildung aufzunehmen.

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